Wirtschaft · Forschung · Debatten

Wirtschaft · Forschung · Debatten

Transkript

Zurück zur Episode

00: 00:00 Jede Krankheit, die verhindert wird, die erspart uns ja mehrere Tage, die wir uns nicht gut fühlen, schlechtere Arbeit leisten oder ganz zu Hause bleiben.

00: 00:10 Wirtschaft, Forschung, Debatten: Ein ZEW-Podcast. Es ist wieder Herbst und damit auch wieder Erkältungszeit. Wenn der Hals kratzt und die Nase anfängt zu laufen, dann gehen wir vielleicht in die Arztpraxis oder zur Apotheke aber lieber nicht zur Arbeit. Dass Beschäftigte bei Krankheit nicht arbeiten müssen und trotzdem Anspruch auf Bezahlung haben, so etwas gibt es in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert. Inzwischen haben viele Länder vergleichbare Gesetze. Mein Name ist Carola Hesch und in dieser Folge des ZEW-Podcast geht es unter anderem darum, was aus ökonomischer Sicht für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall spricht. Unser Gast ist diesmal Nicolas Ziebarth. Er leitet seit Juli den Forschungsbereich „Arbeitsmarkt und Sozialversicherungen“ am ZEW Mannheim. Wir blicken darauf, wie sich die Gesetzeslage zur Lohnfortzahlung in Deutschland und den USA unterscheidet und was es bei der politischen Gestaltung eines Anspruchs darauf gegeneinander abzuwägen gilt. Außerdem verrät Nicolas was er als Forschungsbereichsleiter noch so alles vorhat. Herzlich willkommen zum ZEW-Podcast. Hallo Nicolas.

00: 01:22 Ich freue mich hier zu sein. Danke für die Einladung.

00: 01:28 Verrätst du mir, was heute noch auf deiner To-Do-Liste steht.

00: 01:32 Heute ist es Dienstag, das heißt ich habe die Ehre zu unterrichten, und zwar unsere Mannheimer Doktoranden und Doktorandinnen. Ansonsten haben wir noch ein Seminar und dann noch ein paar Treffen und ein bisschen Forschung werde ich auch noch machen.

00: 01:47 Und zu unserem Thema: Ich nehme an du fühlst dich fit, sonst wärst du wahrscheinlich jetzt nicht zur Arbeit erschienen.

00: 01:53 Genau. Man hat ja immer ein paar Nächte, wo man nicht so gut schläft, zumindest bin ich heute relativ früh aufgewacht. Aber zumindest habe ich keinerlei Infektionskrankheiten, da bin ich mir relativ sicher.

00: 02:03: Erklär mir nochmal. Warum sollte ich denn mit so einer Erkältung nicht zur Arbeit gehen? Also stellen wir uns mal vor ich arbeite im Einzelhandel und es ist viel Betrieb, weil alle Leute wollen Weihnachtsgeschenke kaufen: Wäre es nicht besser mir Medikamente und Taschentücher einzupacken und die Kollegen dann nicht im Stich zu lassen?

00: 02:18: Das machen ja auch leider viele und das war auch würde ich sagen der Standard vor der Corona-Pandemie, dass die Leute einfach auch vielleicht aus einer falschen Arbeitsethik heraus Medikamente genommen haben, vor allem in Amerika und trotzdem auf der Arbeit erscheinen. Da gibt es Druck vom Arbeitgeber im Zweifel von den Mitarbeiterinnen und die Kunden wollen natürlich auch bedient werden. Der Nachteil ist, kurzfristig gedacht macht es vielleicht sogar unter manchen Umständen Sinn, aber man vergisst natürlich, dass man dadurch Leute ansteckt, und zwar eben alle genannten Gruppen: die Kunden und die Kolleginnen und Kollegen. Und die werden dadurch auch krank. So verbreiten sich eben Infektionskrankheiten, das heißt am Ende des Tages nennen wir das in der Wissenschaft Präsentismus, dass man krank zur Arbeit geht und das ist eigentlich ein Phänomen, das wir möglichst nicht haben wollen.

00: 03:15: Aber andersrum: Wenn man jetzt Geld bekommt, wenn man nicht zur Arbeit geht, sondern zu Hause bleibt im Krankheitsfall, dann gibt es vielleicht auch Leute, die sich krank melden, obwohl sie gesund sind. Ist das nicht vielleicht auch eine verlockende Aussicht?

00: 03:31 Genau, das ist die andere Seite der Medaille und das ist gerade das Problem, was Ökonomen wie mich beschäftigt: Wie kann man solche Sozialversicherungssysteme so ausgestalten, dass wir möglichst die Zahl der, wie wir es nennen, Blaumacher minimieren und die Leute, wenn sie gesund sind, zur Arbeit kommen und auch ordentlich arbeiten, aber gleichzeitig wir verhindern, dass wenn Leute krank sind, krank zur Arbeit gehen und sich entweder körperlich ruinieren, was denn langfristige Folgen haben kann oder eben wenn sie infektiös sind andere Leute anstecken. Und diese Ansteckung anderer Menschen nennen wir negative Externalitäten, die wollen wir möglichst auch minimieren. Das ist dann aber in der Praxis gar nicht so einfach, wie man sich vorstellen kann, beide Seiten der Medaille unterzubringen, also beide Phänomene möglichst runter zu regulieren und das auch möglichst so zu schaffen, dass die Leute das aus eigenem Antrieb und ökonomischen Anreizen heraus machen. Weil wir beobachten ja nicht als Kolleginnen oder Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen unbedingt, wie krank Leute sind. Also man kann durch viele Tabletten, die es heutzutage gibt, die Symptome unterdrücken, man kann sich verstellen; manchmal sieht man es, manchmal sieht man es aber nicht. Und oft weiß man nicht ganz genau, wie krank jemand wirklich ist.

00: 04:50 Du hast ja schon erwähnt, dass du lange in den USA gelebt und geforscht hast und da ist die Sozialversicherung ja nicht so großzügig wie in Deutschland. Wie sieht denn da die Lage aus?

00: 05:04 Genau, also was uns klar sein muss ist, dass wir in Deutschland in einem sehr sozial abgesicherten Wohlfahrtsstaat leben im internationalen Vergleich, insbesondere im Vergleich zu Amerika. Wir haben ja schon erwähnt, seit Anfang des 19. Jahrhundert ist im Prinzip die gesetzliche Lohnfortzahlung verankert, das ist Teil unserer Sozialversicherungs-DNA und alle Seiten, die Gewerkschaften auch die Arbeitgeberseite und die Bevölkerung insgesamt, legt sehr großen Wert darauf. In Amerika hat sich das nicht so entwickelt – das sind dann historische Zufälle vielleicht. Aber wie jeder weiß, gibt es da auch keine – bis vor kurzem zumindest – keine allgemeine Krankenversicherungspflicht und so ähnlich ist das bei der Lohnfortzahlung. Man muss sich das vorstellen: Die erst Stadt war San Francisco, die immer ein Vorreiter in so Sachen, die die gesetzliche Lohnfortzahlung eingeführt hat und das war – jetzt muss man sich mal festhalten – im Jahr 2007.

00: 05:15 Also vor 15 Jahren.

00: 05:16 Das ist noch nicht so lange her, genau. Und seitdem hat dann eine ganze Reihe an Städten und auch Bundesstaaten die gesetzliche Lohnfortzahlung eingeführt. Am Anfang gab es da sehr starke Widerstände, weil das Gegenargument der konservativen in Amerika ist einfach: Wieso kann dass der Arbeitgeber nicht selber entscheiden und der Arbeitnehmer? Vielleicht wollen das beide Seiten gar nicht, vielleicht will er lieber mehr Lohn haben als eine soziale Absicherung, die ihn auch Geld kostet? Wieso sollte sich der Staat überhaupt einmischen? Und das ist halt immer so eines der Standardargumente. Und die Befürchtung war, dass das dazu führt, dass der Arbeitsmarkt überreguliert wird und dann Löhne sinken, und Beschäftigung verloren geht. Das Schöne in Amerika ist, das man einen föderalen Staat hat, aus ökonomisch-forschungstechnischer Sicht kann man dann verschiedene Regionen, die so eine Lohnfortzahlung zu verschiedenen Zeitpunkten eingeführt haben, miteinander vergleichen und so genannte natürlich Experimente ausnutzen. Da kann man alle möglichen Effekte empirisch schätzen. Und vor 15 Jahren war San Francisco eben die erste Stadt und seitdem haben Dutzende von großen Städten, New York City, Chicago zum Beispiel, die Lohnfortzahlung eingeführt aber auch Bundesstaaten. Und, nicht nur demokratisch regierte, auch Purple-States, wo die Republikaner regieren, und auch republikanische Gouverneure stehen dem nicht mehr ganz ablehnend gegenüber. Der Grund ist, dass die Forschung gezeigt hat, dass die Effekte eben überwiegend positiv sind und zumindest keine starken negativen Effekte auf den Arbeitsmarkt festzustellen sind. Also wenn man sich anschaut, ob die erste Befürchtung der Gegner wahr geworden ist, dass die Beschäftigung zurückgegangen ist und Löhne gesunken sind, dann findet man da keine Hinweise darauf. Dass in den Regionen, wo das eingeführt wurde, das so war. Also das Argument, dass das nur massiv Verzerrung der Arbeitsmarktdynamik zufolge hat, das stimmt in Amerika nicht. Jetzt muss ich noch ausholen und bisschen und hinzufügen, dass die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall in den USA ein bisschen anders geregelt ist als in Deutschland. Und zwar ist sie bei Weitem nicht so großzügig. Es gibt auch hundert Prozent Lohnfortzahlung, aber man muss die sich erarbeiten. Man hat sogenannte Fehlzeitenkonten oder eine Art des Arbeitszeitkontos und man kriegt ungefähr eine Stunde unbezahlte Arbeit, die man nehmen kann, wenn man nicht zur Arbeit erscheint, für 40 Stunden, die man arbeitet. Also pro Vollzeit Arbeitnehmer pro Woche bekommt man eine Stunde, das heißt pro Monat einen halben Tag, in zwei Monaten einen Tag. Durchs Arbeiten sammelt man diese Guthaben eben an und nach einem Jahr hat man – sagen wir mal 6 Tage eingespart – und die kann man jetzt nehmen, wenn man sich krank fühlt oder krank ist oder auch wenn man kranke Kinder oder Angehörige zu betreuen hat. Die Barrieren des zu nehmen, sind relativ niedrig aber muss Bescheid sagen und das kriegt man eben dann vom individuellen Konto abgezogen. Wenn man die Tage nicht nutzt, dann gehen die über auf das nächste Jahr und sammeln sich an und es gibt auch Industrien oder zum Beispiel im öffentlichen Sektor bei Lehrern, wo man das ansammelt bis zur Rente und kriegt dann nicht genutzte, sozusagen Lohnfortzahlungstage ausgezahlt oder ein Teil davon und das erhöht die Rente ebenso. Also jeder hat sein individuelles Konto und die Leute nehmen das, wenn es nötig ist, aber die Konten sind eben sehr viel weniger großzügig als bei uns, wo es sechs Wochen zu hundert Prozent gibt.

00: 09:45 Also hier in Deutschland ist es ja wesentlich großzügiger. Meinst du vielleicht sogar zu sehr?

00: 09:53 Das ist immer eine Debatte, die gab es schon mal in den 90er-Jahren, dazu habe ich meine Dissertation geschrieben, vor auch 15 Jahren jetzt. Da ging es darum, für die, die sich noch erinnern, dass, in der letzten Phase der Kohl-Regierung, unter schwarz-gelb, 1996 die Lohnfortzahlung abgesenkt wurde von 100% auf 80% als Mindeststandard. Das Argument war damals, da hatten wir hohe Arbeitslosigkeit und die generelle Tendenz war, das zumindest von Konservativen gesagt wurde, der Wohlfahrts- und Sozialstaat ist zu großzügig und wir müssen den etwas zusammenschneiden und die Wachstumskräfte freisetzen. Das Problem war, dass die Reform zur falschen Zeit wahrscheinlich kam aber auch komplett unpopulär war und hat dann für viele das Fass zum Überlaufen gebracht. Objektiv gesehen könnte man das durchaus vertreten. Also in Schweden zum Beispiel, in unserem Vorzeigeland wird der erste Tag überhaupt nicht bezahlt, also es gibt zumindest keinen gesetzlichen Anspruch und danach zahlt der Arbeitgeber 80%. Natürlich kann jeder mehr zahlen freiwillig, aber die gesetzliche Vorlage sind 80% Mindestleistung des Lohnes. Das hatte man dann eben auch versucht in Deutschland, aber das ging dann sehr daneben oder in die Hose, wie man so schön sagt, würde ich behaupten. Weil das unter anderem zu Massendemonstrationen geführt hat und Streiks und da waren noch andere Reformpakete der Auslöser aber vor allem diese Kürzung der Lohnfortzahlung wurde von der Bevölkerung nicht akzeptiert. Also das war relativ klar, und zwar schnell klar, dass das nicht nur die Gewerkschaften auch die allgemeine Breite Bevölkerungsmasse nicht akzeptiert, dass jemand bestraft wird und weniger Gehalt bekommt, weil er krank ist. Auch weil Krankheit in den meisten Fällen unverschuldet ist und zumindest so gesehen wird auch.

00: 11:54 Weißt du, welchen Effekt diese Kürzung damals hatte, also war es zumindest wirklich für die Sozialversicherung eine Entlastung?

00: 12:00 Es hat dadurch, dass es in dieser ganzen Masse an Protesten aufgegangen ist, hat man natürlich auch viele Nebeneffekt. Es hat auf jeden Fall dazu geführt, dass weniger Leute sich krankgemeldet haben, also das kann man an den Daten sehen. Dadurch eben, dass man nicht genau sehen kann, wer sich jetzt krank zur Arbeit geschleppt hat und wie viel Schmerzen oder Ansteckungen die Leute verursacht haben, ist es schwierig die Gesamteffekte genau zu bestimmen. Das war dann auch so, dass viele Gewerkschaften in Tarifverträgen das ausgeschlossen haben, also effektiv waren gar nicht so viele Leute betroffen; also waren immer noch einige Millionen betroffen, aber da gab es auch schon Gegenbewegungen. Und dann wird die Wahl gewonnen und Schröder wurde zum Bundeskanzler und Rot-Grün hat es dann auch ziemlich schnell wieder rückgängig gemacht, 1998. Also das waren nur anderthalb Jahre, zwei Jahre maximal, Gesetzeslage. Und als die Rückgängigmachung zu hundert Prozent durchgesetzt wurde, hat man aber auch sofort gesehen, dass die Leute sich wieder öfter krankgemeldet haben. Und natürlich kann man jetzt sagen, da sind natürlich auch Leute dabei, die das ausnutze, ja, das weiß jeder, dass es auch Blaumacher gibt. Die Frage ist einfach, wie viele Blaumacher sind es im Vergleich zu den Leuten, die krank zur Arbeit gehen. Und wir wissen auch, dass Leute, obwohl sie hundert Prozent Lohnfortzahlung bekommen würden auch so schon krank zur Arbeit gehen und die Hauptgründe dafür sind oft Angst vor dem Arbeitsplatzverlust, der Druck die Arbeit überhaupt abzuarbeiten und auch sozialer Druck von Kollegen. Das heißt es gibt auch andere Mechanismen als die Ersatzraten, wie wir das nennen, beziehungsweise die wirken darauf, dass Leute krank zur Arbeit gehen, was sie nicht sollten oder im Zweifel auch nicht erscheinen, weil sie nicht arbeiten wollen. obwohl sie vielleicht gesund wären.

00: 13:51 Du hast dich ja damals in deine Dissertation viel mit dem deutschen Gesundheitssystem beschäftigt und die meisten Reformen liegen auch schon relativ lange zurück. Siehst du denn aktuell Reformbedarf?

00: 14:05 Ich glaub die Erfahrung aus den Neunzigern hat uns gelehrt, dass zumindest die Absenkung der Lohnersatzrate bei der Lohnfortzahlung kein Politiker mehr so schnell anfassen wird. Das ist einfach kulturell in Deutschland so stark verankert, dass wir eine hundertprozentige Lohnfortzahlung haben wollen, das muss man auch akzeptieren. Aber man kann sich natürlich Gedanken machen – und das geht dann auch über in meine grösser-flächige Forschung – wie wir es schaffen können, die Leute über den Lebenszyklus an der Arbeit produktiv zu halten, auch glücklich zu halten, dass sie zufrieden sind mit ihrer Arbeit. Und vor allem, was machen wir, wenn Leute kleinere oder größere Gesundheitsschocks erleben. Wir haben ja sechs Wochen Lohnfortzahlung, aber Leute, die länger krank sind – und davon gibt es immerhin einige – die zum Beispiel im Laufe des Lebens Krebs bekommen oder psychisch erkranken, Bandscheibenvorfälle, schwere Leiden haben oder auch Arbeitsunfälle oder privat Unfälle erleiden – wie schaffen wir es, dass wir die so gut zu versorgen, dass sie möglichst schnell wieder integriert werden können in den Arbeitsprozess. In Deutschland haben wir unheimlich viele verschiedene Gesetzestexte, die sind relativ fragmentiert, ich bin kein Jurist aber da gibt es das Entgeltfortzahlungsgesetz, das Arbeitsschutzgesetzes, das Infektionsschutzgesetz – jetzt mehr in der Debatte durch Corona. Dann gibt es das SGB-V mit dem Krankengeld, was man ab der siebten Woche bekommt, bis zu anderthalb Jahren. Das sind dann 70% des Bruttolohns für länger Kranke. Und dann gibt es die Erwerbsminderungsrente, die man dann beziehen kann, wenn man Prinzip gar nicht mehr arbeiten kann, flapsig gesagt. Und diese ganzen Sozialversicherungssysteme müssen in der Praxis sehr gut aufeinander abgestimmt sein und im Großen und Ganzen, international gesehen, haben wir sehr gute Mechanismen und Unterstützungssysteme. Aber im Detail kann man sicherlich bei vielen Punkten noch nachbessern und optimieren und vor allem auf neuere Entwicklungen reagieren, jetzt zum Beispiel durch Corona, Long Cold als Stichwort ist eines, auf das die Politik reagieren muss.

00: 16:16 Hast du einen Vorschlag?

00: 16:18 Wir haben alte und neue Phänomene. Wir wissen, dass es eine steigende Zahl an psychischen Erkrankungen gibt, es gibt jetzt Long Covid bei Millionen von Beschäftigten, dann haben wir ein Phänomen wie chronische Schlafmangel, in vielen entwickelten Gesellschaften, dass die Leute einfach nicht genug Schlaf bekommen und wenn man chronisch Schlafmangel hat, wissen wir, dass die Leute unvorsichtiger sind, schlechte Arbeit leisten, mehr Fehler begehen und auch die Unfallgefahr dramatisch steigt. Das sind jetzt alles ganz verschiedene Ursachen. Ein weiteres ist Rückenleiden, ganz viele Leute in Deutschland sind übergewichtig und im Laufe des Lebens wirkt sich das eben auch gesundheitlich aus und das verlangt individuelle Ansätze. Über alle diese Phänomene müssen wir erst mal informieren und aufklären – was sind die Ursachen, wie kommt es dazu – Prävention betreiben, das ist ganz wichtig. Wir haben jetzt inzwischen andere Krisen, die vielleicht von vielen als größer eingeschätzt werden, aber untergründig sind das Phänomene, die unsere Gesellschaft beschäftigen und die daneben auf die Arbeitsfähigkeit der Bevölkerung sich auswirken. Ich glaube der erste Ansatz ist, das erstmal zu erkennen und die Leute präventiv aufzuklären, wie das verhindert werden kann. Wenn es dazu kommt, dass die Leute krank sind, wenn wir jetzt zum Beispiel Long Covid haben, dann gibt es etliche interdisziplinäre Teams, die daran jetzt arbeiten, erstmal zu verstehen was genau ist Long Covid, was sind die Symptome? Wie lange halten die an? Und natürlich muss dann in diesem Prozess, wenn einer jetzt längeren Zeit schon arbeitsunfähig ist und Krankengeld bezieht, gibt es schon Gesetzesvorlagen die so ein bisschen ein Schattendasein fristen. Aber es gibt ja auch ein betriebliches Eingliederungsmanagement, also gerade in Zeiten des Fachkräftemangels hat jeder ein Interesse daran: Der kranke Arbeitnehmer will zurück und gesund werden und wieder produktiv sein, der Arbeitgeber sucht Fachkräfte und die Politik kann im Prinzip sich das nicht erlauben, auf hochqualifizierte Leute zu verzichten, weil sie es nicht schafft, die Leute Sozialversicherungsmaßnahmen wieder einzugliedern. Und da müssen wir Lösungen finden, um die Millionen Betroffenen einfach über Reha-Maßnahmen, über Absprachen mit den Arbeitgebern, Gewerkschaften, Betriebsärzten, Schwerbehindertenvertretungen zielgenau und bedarfsgerecht – das kommt immer auf die Industrie und den Job an und die genaue Krankheit – wieder an den Arbeitsplatz zurückzuführen.

00: 19:04 Das ist, wozu du aktuell forschst.

00: 19:12 Also wir haben verschiedene Forschungsprojekte, jetzt immer noch zu Amerika und der Lohnfortzahlung dort, weil diese Forschung bei uns dauert eben sehr lange leider; das sind immer ein paar Jahre. Ich bin jetzt seit wieder in Deutschland aber ich arbeite zum Beispiel auch an einer Forschungsarbeit zur Erwerbsminderungsrente, da gab es eine große Reform 2001, das liegt lange zurück. Aber es ist immer noch wichtig, zu verstehen, was da passiert ist, was die Auswirkungen war. Wer das nicht genau weiß: Da wurden für die jüngeren Jahrgänge, die nach 1960 geboren wurden, die Berufsunfähigkeitsversicherung abgeschafft und damals ist die eingesprungen, wenn man Gesundheitsschock erlitten hat und nicht mehr in seinem ursprünglichen erlernten Beruf arbeiten konnte. Das gibt es jetzt für die jüngeren Menschen nicht mehr, oder die nach 1960 geboren sind. Die bekommen jetzt nur noch eine Erwerbsminderungsrente, wenn sie wirklich gar nicht mehr arbeiten können; also weniger als sechs beziehungsweise weniger als drei Stunden am Tag, egal welche Arbeit. Und da schauen wir uns eine aktuelle Forschungsarbeit an, ob auch die Privatversicherungswirtschaft das kompensieren konnte, wie die Regulierung aussieht. Das ist laufende Forschung, aber eine sehr spannende Forschung. Da spielt natürlich rein, wie schaffen wir das überhaupt, dass die Leute gar nicht erst erwerbs- oder berufsunfähig werden. Wie kriegt man das hin, das wir eben rechtzeitig erkennen, wenn Leute gefahrlaufen abzugleiten und gesundheitlich so betroffen sind, dass sie dann komplett aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden. Also wir müssen da früher ansetzen und die Alarmleuchten müssen möglichst früh angehen. Je früher man interveniert, desto eher kann man was machen. Und noch besser ist es erst gar nicht die Krankheiten entstehen zu lassen. Wie gesagt: Übergewicht, Rückenleiden ist ein verbreitetes Problem, mangelnder Schlaf ist ein anderes – und dann kriegen wir eben Infektionskrankheiten in regelmäßigen Abständen. Die sind jetzt durch Corona zum Glück bisschen im Vordergrund, ich glaube das sind wir relativ gut informiert.

00: 21:32 Das man eine Maske tragen kann, um sich davor zu schützen.

00: 21:39 Also wenn man zurückdenkt vor Corona: Es hat ja niemand gedacht, dass man eine Masken tragen würde im Winter. Wir haben wenig gewusst, wie sich diese Infektionskrankheiten verbreiten. Klar, jeder hat irgendwie eine laufende Nase, die Kinder waren krank im Kindergarten und in der Schule und Leute sind auch – ich kann mich erinnern, es war Alltag, dass man offensichtlich erkälteten Personen am Arbeitsplatz hatte oder an der Wursttheke oder mit Kundenkontakt; ich hoffe das sich das jetzt ändert. Also in der Hinsicht hat Corona vielleicht auch etwas Gutes. Ich hoffe, dass wir mehr wissen über Infektionskrankheiten, dass die Leute, auch wenn sie können Maske tragen, mindestens wenn sie erkältet sind und dass man sich bemüht, die Infektionen weniger zu verbreiten. Ob das jetzt Covid ist oder ob das die urklassische Grippe ist oder Erkältung. Und wenn wir das schaffen, dann ist da schon mal sehr viel geholfen. Jede Krankheit, die verhindert wird, die erspart uns da mehrere Tage, die wir uns nicht gut fühlen, wo wir schlechte Arbeit leisten oder ganz zu Hause bleiben.

00: 22:48 Jetzt haben wir über viele Reformen und Entscheidungen in der Vergangenheit gesprochen. Werfen wir doch ein Blick in die Zukunft: Also du bist jetzt seit etwa drei Monaten am ZEW und hast die Leitung des Forschungsbereichs Arbeitsmärkte und Sozialversicherungen übernommen. Was sind die nächsten Schritte die du als Bereichsleiter planst?

00: 23:06 Also erst einmal freue ich mich total hier zu sein. Es ist quasi wieder. Nachdem ich zehn Jahre in Berlin war und dann jetzt elf Jahre in Amerika und aus Frankfurt am Main komme, sind wir jetzt hier in Mannheim, im schönen Mannheim, im Herzen von Europa, fühle ich mich wieder wie zuhause und es ist eine spannende Aufgabe. Wir haben ein tolles Institut hier im ZEW, eine super Uni und ein prima Bereich, den ich leiten darf. Und jetzt müssen wir zusehen, wie man so schön sagt, wie wir uns für die Zukunft aufstellen, damit wir auch forschen und sehr gute Politikberatung machen und unsere Erkenntnisse in die Öffentlichkeit hinein auch kommunizieren. Das sind so die die Hauptansprüche und dafür bekommen wir auch Steuergeld. Das aller Erste, was ansteht, ist eine Evaluation des Hauses und des Bereiches. Da haben wir jetzt den ersten Teil jetzt in zwei Wochen und dann den zweiten Teil im März. Da ist jetzt ein großer Fokus darauf gerichtet, aber das hilft natürlich auch, sich sozusagen selber zu finden. Es gab ja den Bereich schon vorher, ich habe den ja nicht neu erfunden und jetzt müssen wir uns erstmal zusammensetzen, genau überlegen wer wir sind, wo wir hin wollen. Ich glaube wir sind da auf einem ganz guten Weg, weil wir ein sehr großer, erfahrener Bereich sind mit mehreren erfahrenen Wissenschaftlerinnen. Im Prinzip haben wir uns so aufgestellt, dass wir vier Schwerpunktthemen haben: Das ist mein eigenes Thema, Gesundheit am Arbeitsplatz, so kann man das zusammenfassen. Dann haben wir die Melanie Arntz, die zur Digitalisierung forscht, der Arbeitswelt als Zukunftsthema. Dann haben wir den Guido Neidhöfer und den Friedhelm Pfeiffer, die leiten die Gruppe zur Bildung und zu sozialer Mobilität und die Katrin Sommerfeld zu Migration. Also im Prinzip ist es bei uns so, dass wir vier starke Schwerpunkte haben, die vier große Zukunftstrends, auch für den Arbeitsmarkt, untersuchen. Eben Digitalisierung, Bildung, Migration und Gesundheit am Arbeitsplatz. Ich glaube damit haben wir ein sehr starkes Potenzial, das wir auch in der Zukunft unsere Aufgaben sehr gut erledigen können.

00: 25:24 Du hast schon gesagt, dein Expertenwissen liegt auf dem Bereich Gesundheit am Arbeitsplatz. Hast du noch konkrete Beispiele, was das konkret für deine Forschung bedeutet?

00: 25:35 Ich hatte schon einige Beispiele angeschnitten. Im Prinzip kann man vereinfacht sagen, dass es darum geht, wenn wir in Zeiten vom demografischen Wandel sind – die Leute werden älter wir diskutieren den Fachkräftemangel und die wahrscheinlich längere Lebensarbeitszeit – wie schaffen wir es in der Situation, das wird die Leute am möglichst lange im Arbeitsleben integriert halten und sie auch zufrieden halten, dass sie nicht ausscheiden wollen. Und da kommt es eben darauf an, dass wir die Sozialversicherungssysteme, die da unterstützend wirken – dass ist eben die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, das Krankengeld aber das ist eben auch die Erwerbsminderungsrente und das sind die Unfallversicherung, es geht dann auch um die Krankenversicherung in gewisser Weise – wie schaffen wir es, die so zu optimieren, dass wir das hinbekommen. Als Beispiel: Wir haben 800.000 Arbeitsunfälle. Wenn man mehr als drei Tage Arbeitsunfähigkeit hat wird das gezählt, das sind die offiziellen Schätzungen. 800.000 Arbeitsunfälle im Jahr, das ist jede Menge. Die sind zwar gesunken über die Zeit aber da gibt es noch sehr, sehr viel was relativ unbemerkt von der Öffentlichkeit abläuft. Da bin ich überzeugt, dass wir beitragen können, die Lage für die Beschäftigten für die Arbeitgeber und für die Gesellschaft insgesamt zu verbessern. Wie gesagt, bei Corona haben wir jetzt einen Schnellkurs in der Bildung zur Übertragung von Infektionskrankheiten, wie kann man das verhindern und was machen wir am Arbeitsplatz, dass das möglichst nicht passiert bekommen. Jetzt sind die Leute dem wahrscheinlich bisschen überdrüssig, obwohl es immer noch ein Thema ist. Aber es gibt andere Themen: Eben Arbeitsunfälle als Stichwort, Überlastung am Arbeitsplatz. Wie kriegen wir das hin, dass wir vielleicht neue Lösungen integrieren auch in Arbeitsprozesse. Das muss ja nicht immer alles staatlich reguliert sein, aber als ein weiteres Beispiel: Es gibt ja heutzutage, jeder hat ein Smartphone fast, jeder weiß, wie man mit Apps umgeht; da müssen wir ein bisschen kreativ sein, dass man eventuell Lösungen entwickelt auf freiwilliger Ebene. Dass Arbeitgeber zum Beispiel auf freiwilliger Ebene von Beschäftigten mitentwickelt, gewisse Filterfragen jeden Morgen abfragt – das könnte man sich überlegen. Dass man gleich sieht, wenn Menschen in einem schlechten mentalen Zustand sind oder eben sehr unausgeschlafen oder das sie sich nicht gut fühlen. Dass man frühzeitig erkennt, wenn Gefahren lauern und so vielleicht Arbeitsunfälle verhindern kann. Oder auch Fehler in der Produktion oder wir können auch auf politischer Ebene hoffentlich dafür sorgen, dass wir eine bessere Datenerhebung bekommen, das haben wir auch diskutiert. Wir haben recht wenig Daten in Deutschland, auch wegen des strengen Datenschutzes. Das ist auch zum Teil gerechtfertigt und gut so. Aber wenn wir wenig Daten haben, können wir eben auch wenig analysieren als Wissenschaftler. Dann wissen wir halt nicht, was sind die Auswirkungen von einer Initiative XY. Es wär gut, wenn wir dazu kämen, wenn wir mehr Pilotprojekte hätten. Zum Beispiel zum betrieblichen Eingliederungsmanagement und Regionen oder Unternehmen aussuchen in einzelnen Standorten, wo man neue Programme testet und dann die Daten solide erhebt und das randomisiert, evaluiert. Also in der Medizin macht man das ja schon routinemäßig seit Jahrzehnten und in der Ökonomie gab es neulich einen Nobelpreis dafür. Dass man eben dort auch versucht, gewisse Programme, und es sollen auch Programme im Arbeitsmarkt sein, in verschiedenen Standorten, zufällig ausgewählt, randomisiert durchführt und sich dann anschaut, wie hat sich das ausgewählt auf die Beschäftigten, auf die Produktivität, die Arbeitgeber usw.

00: 29:26 Da hast du auf jeden Fall sehr viel vor. Jetzt zum Abschluss noch eine Frage zurück in Deutschland und hier am ZEW: Gibt es etwas, worauf du dich besonders freust?

00: 29:33 Ich freue mich erstmal wieder hier zu sein, irgendwie verliert man seine kulturelle Identität ja nie. Amerika ist ein wunderbares Land, aber ich fühle mich trotzdem hier eigentlich zu Hause, gerade in der Region und der Heimat. Ich freue mich darauf, dass ich wieder zum Fußball zur Eintracht gehen kann – mein Herzensverein. Ich freue mich auf die Mitarbeiter, natürlich auch das ganze Team, hier die Bereichsleiter sind alle extrem engagiert, kompetent und total nett. Die Leitung ist hervorragend des Hauses und die Universität hat extrem viele gute Professoren aber auch Studenten, Studentinnen. Also die Freude, die setzt sich zusammen aus vielen verschiedenen Punkten. Ich kann jetzt gar keinen einzelnen herausgreifen.

00: 30:20 Das ist ja auch schön. Dann wünsche ich dir viel Erfolg dabei und danke für das Gespräch.

00: 30:28 Sehr gerne, danke schön.

00: 30:30 Danke auch fürs Zuhören beim ZEW-Podcast. Wenn euch der Podcast gefällt, freuen wir uns über eure positiven Bewertungen auf Spotify oder Apple Podcasts. Habt ihr Fragen oder Anmerkungen? Dann schreibt gerne eine Mail an podcast@zew.de. Wir sind gespannt auf eure Zuschriften.

Über diesen Podcast

Der Podcast des ZEW Mannheim.

von und mit ZEW – Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung

Abonnieren

Follow us